Das süße Nichtstun: ein Plädoyer von Tom Hodgkinson

Meine erste Begegnung mit Tom Hodgkinson hatte ich bei der Dokumentation „Frohes Schaffen“. Diese stellt die heutige Arbeitsmoral infrage und reflektiert die Entwicklung über die Jahrhunderte sowie Alternativen zu 9 to 5. In dieser Dokumentation erklärt der Autor und Gründer der Idler-Akademie in einigen Lektionen, wie man den Müßiggang pflegt. 

Diesem Thema hat Tom Hodgkinson sogar ein ganzes Buch gewidmet: Anleitung zum Müßiggang. Im Vorwort hält er fest: „Zweck dieses Buches ist es, die Faulheit zu feiern und die westliche Arbeitsmoral zu attackieren, die so viele von uns noch immer versklavt, demoralisiert und deprimiert.“ Ein paar Möglichkeiten, um das Nichtstun gemäß Tom Hodgkinson genüsslich auszuleben, möchte ich in diesem Blogbeitrag vorstellen. Wer seine Arbeitsmoral dadurch gefährdet sieht, der hört mit dem Lesen am besten hier auf. 😉

„Es ist eine traurige Wahrheit, dass wir von frühester Kindheit an mit den moralischen Märchen tyrannisiert werden, dass es richtig, sittsam und gut ist, beim Erwachen augenblicklich aus dem Bett zu springen, um uns so schnell und fröhlich wie möglich an irgendeine nützliche Arbeit zu machen.“

Hodgkinson, Anleitung, 9

1. Aufstehen

Das erste Thema, mit dem sich der Autor befasst, ist das Aufwachen. Dieses wurde nämlich durch den heutigen Zeitgeist zu einer Qual, insbesondere für Langschläfer und Nachteulen. Ein großer Feind ist hier die Weckeruhr: 

„Welches boshafte Genie hat diese beiden Feinde des Nichtstuns – Uhr und Wecken – zu einer Einheit zusammengefügt? Jeden Morgen werden in der ganzen westlichen Welt zufrieden träumende Menschen durch ein ohrenbetäubendes Klingeln oder hartnäckiges elektronisches Piepen rüde aus dem Schlaf gerissen. Der Wecker ist die erste Station in der unseligen Verwandlung vom glücklichen, sorglosen Träumer zum angstgeplagten und mit Verantwortung und pflichtenbeladenen Arbeitstier […].“

Hodgkinson, Anleitung, 13

Also da kann ich nur zustimmen. Für mich ist der Wecker auch eine der schlimmsten Erfindungen, die es gibt, insbesondere, da meine innere Uhr sehr gut funktioniert und ich keinen Wecker benötige. Ich finde, dieses Gerät führt nur zu Schlafstörungen und sollte abgeschafft werden. Da bin ich mit dem Autor einer Meinung. 😉

Darüber hinaus hat jeder Mensch seinen eigenen Biorhythmus und zu versuchen, gegen diesen zu arbeiten, führt meiner Meinung nach langfristig zu Krankheiten. An dieser Stelle ist auch das Schulsystem zu hinterfragen. Als ich mit 5 eingeschult wurde (in Aserbaidschan), gab es bereits Ende der achtziger Jahre ein flexibles System, das den Eltern erlaubte, die Kinder entweder vormittags oder nachmittags zur Schule zu schicken. Für die Lehrer war das auch überhaupt kein Problem, da auch sie flexibel waren. Meine Schulzeit begann etwa gegen Mittag und endete gegen 18:00 Uhr. Das fügte sich gut mit den Arbeitszeiten meiner Eltern sowie mit meinem eigenen Biorhythmus. Die Umstellung in Deutschland auf das hiesige Schulsystem hat bis zum Abitur nicht funktioniert und (rückblickend zu meinem Glück) allein wegen der Erschöpfung und Müdigkeit schon vor 7:00 Uhr aufstehen zu müssen, habe ich vielen Lehrern überhaupt nicht zugehört (und damit auch nichts verpasst). 

Doch wieder zurück zu Tom Hodgkinson. Das Hauptproblem, das der Autor beim Thema Aufwachen sieht, ist nämlich folgendes:

„Trotz aller Versprechungen der modernen Gesellschaft, die Menschen Freizeit, Freiheit und Selbstbestimmung zu schenken, sind die meisten von uns nach wie vor Sklaven eines Stundenplans, den wir uns nicht ausgesucht haben.“

Hodgkinson, Anleitung, 15

Der heutige Zeitgeist ist dem Nichtstun, der Trägheit, dem Ausschlafen und anderen Arten des Müßiggangs feindlich gegenüber gesinnt. Zum einen hängt das mit der Christianisierung zusammen und der Arbeitsethik, die damit einhergeht. Zum anderen legt das kapitalistische System des Westens den Fokus auf Produktivität, Effizienz und Effektivität, was zu einer Schnelllebigkeit führt. Was kann man also tun? Er hat (wie auch ich) den Wecker einfach abgeschafft und seine innere Uhr trainiert. „Auf die Weise wacht man langsam, natürlich und vergnügt auf. Man verlässt das Bett, wenn man bereit dazu ist, und nicht, wenn jemand anderer es von einem verlangt. (23)“ 

2. Arbeit

„Neun Uhr morgens ist sicherlich die brutalste und gefürchtetste aller Stunden im Tageslauf des Müßiggänger, denn es ist der Zeitpunkt, für den irgendwann irgendjemand mal beschlossen hat, dass da die Arbeit beginnen soll.“

Hodgkinson, Anleitung, 25

Da sind wir gleich bei einem aktuell viel diskutierten Problem unserer Zeit: dem Arbeitsrhythmus von 9 to 5. Während die einen bei vollem Lohnausgleich nach einer 4-Tage-Woche streben, wollen die anderen eine Erhöhung der Arbeitszeit auf mehr als 40 Stunden pro Woche. Doch bleibt eine Sache oft unerwähnt. Quantität und Qualität sind nicht dasselbe. Nur weil jemand an einem Ort eine bestimmte Anzahl an Stunden anwesend ist, bedeutet das noch lange nicht, dass diese Person auch tatsächlich produktiv ist. Hierbei handelt es sich um ein System, das den Menschen von außen aufgezwungen wird. Statt die produktiven Arbeitszeiten und Fähigkeiten des einzelnen Individuums so weit wie möglich zu berücksichtigen, wird einfach versucht, alle in ein System hineinzupressen. Wie erfolgversprechend das ist, das bleibt lieber Leser, Dir zu beurteilen.

„Die industrielle Revolution war vor allem ein Kampf zwischen harter Arbeit und Faulheit, und die harte Arbeit hat gesiegt. […] Fröhliches Durcheinander, Arbeit im Einklang mit den Jahreszeiten, die Uhrzeit am Sonnenstand erkennen, Vielfalt, Abwechslung, eigene Regie: all dies wurde durch eine brutale, genormte Arbeitskultur ersetzt, an deren Auswirkungen wir noch heute leiden.“

Hodgkinson, Anleitung, 33

Neben den Folgen der Industrialisierung haben sich laut Tom Hodgkinson weitere neuzeitliche Feinde des Müßiggangs dazu gesellt: „Hunger und Gott sind im Konsumszeitalter durch Besitz und Status ersetzt worden. (41)“ An dieser Stelle übt er Kritik an der Werbeindustrie und dem Konsumismus. Schließlich ist zum Kauf von Waren Geld nötig und um Geld dafür zu erwirtschaften, ist wiederum Arbeit erforderlich und damit gemäß den Regeln der heutigen Gesellschaft der Tausch der eigenen Lebenszeit gegen Geld. Dabei vertritt der Autor die Meinung, dass sowohl der Kapitalismus als auch der Sozialismus den Job zu einer Religion gemacht haben. Das Ergebnis davon ist, dass die Menschen weniger Verantwortung für sich selbst übernehmen und stattdessen diese „an den Chef, an die Firma, an die Regierung [übergeben], und geben Ihnen dann die Schuld, wenn alles schief läuft. (42)“ 

Welche Lösung kann es also an dieser Stelle geben? Einerseits geht es darum, mehr Verantwortung zu übernehmen und das in allen Lebensbereichen. Hier kann man auch den eigenen Konsum hinterfragen. Zum anderen schlägt er eine 3-Tage-Arbeitswoche (natürlich ohne Lohnausgleich) vor, da in diesem Fall die Anzahl der freien Tage höher ist als diejenigen, an denen man arbeitet. Das ist meiner Meinung nach nur dann praktikabel, wenn man an diesen Tagen so viel erwirtschaftet, dass die eigenen Ausgaben gedeckt sind. Im Niedriglohnbereich ist das sicherlich nicht möglich, sondern nur in Berufen, die gut bezahlt werden. Es ist auch eine Frage des Charakters und der Lebenseinstellung. Was ist wichtiger? Das Einkommen oder die Freiheit? Darüber hinaus schlägt er vor, „Arbeit und Leben wieder zu einer glücklichen Harmonie zusammenzuführen. (44)“. Schließlich kann Arbeit auch Spaß machen

3. Liegen bleiben

Wer es geschafft hat, gegen den Trend zu schwimmen und sowohl den Wecker auszuschalten als auch den Arbeitsbeginn um neun Uhr morgens zu ignorieren, der genießt das Liegenbleiben im Bett.

„Das Liegenbleiben – womit ich das wache Liegen im Bett meine – ist kein egoistischer Luxus, sondern ein unersetzliches Werkzeug für jeden Studenten der Lebenskunst, der der Müßiggänger in Wahrheit ist. Im Bett zu liegen und nichts zu tun, ist edel und richtig, vergnüglich und produktiv.“

Hodgkinson, Anleitung, 47

Warum ist liegen bleiben so wichtig? Die Antwort ist: Im Liegen kommen die Ideen. Dies gilt insbesondere für künstlerische Berufe wie Musiker, Schriftsteller und andere kreative Menschen. Ein weiterer interessanter Gedanke, den Hodgkinson hier äußert, ist, dass der Versuch, die Menschen in ein System zu zwingen und sie ab einer bestimmten Uhrzeit im Job zu beschäftigen, auch dazu dient, dass wir gar keine Zeit haben, um ausgiebig nachzudenken. Ein Müßiggänger ist nämlich ein Denker und diese werden gerade von Institutionen gefürchtet. Vor allem Regierungen mögen keine untätigen und selbstständig denkenden Menschen, da sie sich schwerer kontrollieren lassen.

„Untätigkeit als Zeitverschwendung zu begreifen ist ein schädlicher Gedanke, der von ihren geistlosen Gegnern verbreitet wird. Die Tatsache, dass Müßiggang äußerst produktiv sein kann, wird verdrängt. Musiker werden als Bummelanten bezeichnet, Schriftsteller als undankbare Egoisten, Künstler als gefährlich.“

Hodgkinson, Anleitung, 51

Den Tag gemütlich im Bett zu beginnen, trägt zu einem besseren Leben bei. Statt sich direkt nach dem Aufstehen ins oft fantasielose Handeln zu stürzen, geht es bei dieser Art des Müßiggangs um das eigene Dasein. Wer Zeit zum Nachdenken hat, sieht klarer, als der Rest. Er erkennt sich selbst.

4. Fazit

Die Anleitung zum Müßiggang umfasst noch viel mehr Ideen und Kapitel. Das Buch ist so aufgebaut, dass Tom Hodgkinson 24 Stunden lang ein Thema für jede Stunde des Tages erörtert. Was sich davon in der Praxis umsetzen lässt, das ist ganz individuell und hängt von den Rahmenbedingungen des eigenen Lebens ab. 

Das Buch regt dazu an, eine andere Perspektive auf die Arbeitsmoral der heutigen Gesellschaft einzunehmen und auch die eigenen Handlungsweisen und Entscheidungen dadurch zu hinterfragen. Auch findet sich die ein oder andere Idee, wie man den Müßiggang in seinen unterschiedlichen Ausprägungen in den Alltag integrieren kann. Meine Favoriten sind: das Beobachten von Wolken sowie das Flanieren (im Wald oder in einer unbekannten Stadt). 

Und wie steht es mit Dir? Praktizierest auch Du den Müßiggang in Deinem Alltag und genießt Momente des süßen Nichtstuns? Ich freue mich auf Dein Kommentar.

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